Ob in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Schulen oder in der Kita: für fast 1,5 Millionen Beschäftigte in kirchlicher Trägerschaft gelten Streikverbot und Sonderregelungen. Wann endlich wird das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen? Zum Beispiel in Buxthud.
Buxtehude? Ja, Buxtehude, oben im flachen Norddeutschland. Die Stadt nennt sich "Hansestadt" und davon gibt es nicht allzu viele im Land. Knapp vierzigtausend Menschen leben hier und sie sind stolz auf ihre geschichtsträchtige, schmucke Altstadt; lieben das grüne weite Umland und die nahe Nordsee, keine neunzig Kilometer entfernt. Die Menschen fühlen sich wohl in Buxthud, wie die Einheimischen ihre Stadt "plattdütsch" nennen. Auf den gelben Ortsschildern steht es selbstbewusst unter dem offiziellen Stadtnamen. Das Institut für niederdeutsche Sprache in Bremen hat dazu seinen Segen gegeben. Es soll ja mit rechten Dingen zugehen, wenn es neben Buxtehude auch noch ein "Buxthud" gibt.
Alles könnte also hier seinen gewohnten Gang gehen. Doch es rumort in der Idylle, der Stadt- und Landfrieden ist nachhaltig gestört. Der Grund: einer Erzieherin der Kita "Wilde Hummeln" im nahen Sprengel Ottensen wurde im Juli fristlos gekündigt. Warum? Sie war aus der Kirche ausgetreten.
Die Kita gehört zum "Evangelischen Kindertagesstätten-Verband Buxtehude". Und dort gelten Regeln, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz oder Artikel 12 des Grundgesetzes (Freiheit der Berufswahl) aushebeln. Viele Kita-Eltern sind entsetzt: "Wie kann es sein, dass eine Erzieherin, die von den Eltern, aber vor allem von den Kindern, geschätzt wurde, gehen muss?" Angesichts des eklatanten Fachkräftemangels müsse man doch für jede gute Erzieherin dankbar sein.
Die Situation ist in Buxtehude wie überall im Land: dramatisch. Viele offene Stellen, aber keine pädagogischen Fachkräfte. Auf der Job-Plattform jooble.de finden sich unter der Rubrik "Erzieher/Pädagogen-Stellenangebot Buxtehude" 381 Job-Offerten. Nur: es meldet sich niemand. Es gibt keine Kita-Fachkräfte.
Ausdruck christlicher Wertvorstellungen
Kirchenaustritt als Grund für eine fristlose Kündigung? Die Eltern wollen das nicht hinnehmen. Sie wenden sich an Pastor Thomas Haase, den Vorsitzenden des Kitaverbands. Der antwortet in einer ausführlichen Stellungnahme – nüchtern, in vorbildlichem Kirchenamts-Deutsch – aus der wir hier gerne zitieren:
"Kitas in kirchlicher Trägerschaft haben ein christliches Profil und vertreten christliche Grundwerte, mit denen sich auch die Mitarbeitenden identifizieren sollten. Daher ist eine Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche grundsätzlich Voraussetzung für eine Beschäftigung.
In der Praxis gibt es vereinzelt Ausnahmen von dieser Einstellungsvoraussetzung. So werden nach sorgfältiger Einzelfallprüfung Personen angestellt, die nicht Mitglied einer Kirche sind, die der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Niedersachsen (ACKN) angehört, beziehungsweise einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Alle Mitarbeitenden können sich mit den Werten der Kirche identifizieren und respektieren das christliche Menschenbild. Da in Zeiten des Fachkräftemangels Bewerbende ihren Arbeitgeber aussuchen können, ist jede Bewerbung bei einer konfessionsgebundenen Einrichtung auch ein Ausdruck der Identifikation mit christlichen Wertvorstellungen.
Dem Kindertagesstätten-Verband und dem Kirchenkreis ist eine konfessionelle Bindung im Bereich der frühkindlichen Bildung wichtig und ein zentrales Beschäftigungsmerkmal, vor allem bei Leitungspersonal, das nochmals eine besondere Verantwortung trägt. Sollte es während eines bestehenden Anstellungsverhältnisses einer Erzieherin/eines Erziehers zu einem Kirchenaustritt kommen, so sieht das Kirchengesetz der Landeskirche Hannovers eine fristlose Kündigung vor. In diesen Fällen ist keine Ausnahmeregelung vorgesehen. Daher wird nach Bekanntwerden das Gespräch gesucht und erläutert, dass aufgrund des kirchlichen Arbeitsrechts eine Weiterbeschäftigung in unserem Kindertagesstätten-Verband nicht mehr möglich ist, so dass der Mitarbeiterin/dem Mitarbeiter die arbeitsrechtlichen Konsequenzen immer auch bewusst sind."
Ja, so ist das, wenn "christliche Wertevorstellungen" auf Wirklichkeit treffen. Es bleibt bei der fristlosen Kündigung. Jenseits kirchenrechtlicher Fragen gibt es noch etwas, was die Eltern verärgert: Die Kinder hätten nicht einmal die Möglichkeit gehabt, sich von der gefeuerten Erzieherin zu verabschieden. Was in anderen Kitas Standard ist, Abgänge pädagogisch aufzufangen, den Kindern zu erklären, scheint in diesem Fall unwichtig gewesen zu sein. Vielleicht deshalb, weil es einfach keine überzeugende kindgerechte Erklärung gibt.
Buxtehude ist kein Einzelfall. Seit Jahren klagen Kirchen-Beschäftigte gegen ihre Kündigungen, selten mit Erfolg. Erinnert sei an den Fall eines Chefarztes eines katholischen Krankenhauses, der sich durch sieben Instanzen erfolgreich gegen eine Kündigung wegen Verstoßes gegen die katholische Morallehre (Scheidung und Eingehen einer neuen Ehe) klagen musste. Nach Urteilen zugunsten des Chefarztes bei den Arbeitsgerichten erhob der kirchliche Arbeitgeber Verfassungsklage. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil auf und verwies die Sache an das Bundesarbeitsgericht zurück. Die Entscheidung vom Oktober 2014 steht bis heute als Beleg für die fragwürdige Verquickung von Staat und Kirche im Bereich des Arbeitsrechts, stellenweise liest sich das Urteil wie ein katholischer Katechismus.1
Die Kirche kann knallhart sein, wenn es um ihre Ausnahmestellung geht, die ihr juristisch im Arbeitsrecht noch immer zugestanden wird. In beiden großen Kirchen gilt im Arbeitsrecht der sogenannte "Dritte Weg". Rechtliche Grundlage dafür ist das im Grundgesetz verankerte Selbstverwaltungsrecht der Kirchen. Beim "Dritten Weg" sind beispielsweise Streiks und Aussperrungen verboten, die Kirchenmitgliedschaft gilt auf vielen Positionen als Einstellungs- und Beschäftigungskriterium. Kirchliche Sonderrechte, staatlich akzeptiert.
Kitas wie die "Wilden Hummeln" in Buxtehude werden zwar als christliche Einrichtung in Eigenregie betrieben, doch ohne Mittel von Land und Kommune gäbe es sie nicht, auch keine einzige Kita in kirchlicher Trägerschaft hierzulande. Sie alle werden beinahe zu 100 Prozent aus öffentlichen Steuereinnahmen finanziert. Ob Kita oder Einrichtungen in anderen sozialen Bereichen, etwa in der Jugendarbeit, der Sucht-Prävention, der Altenpflege sowie den vielfältigen Beratungszentren in kirchlicher Trägerschaft: der Staat bezahlt. Warum aber wird das kirchliche Arbeitsrecht dann dem staatlichen Arbeitsrecht nicht angeglichen? Tatsache ist: An die 1,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen sind auch im Jahre 2023 noch immer Beschäftigte minderen Rechts. Ein unhaltbarer Zustand.
Status Quo: Kirchenrecht statt staatliches Arbeitsrecht
Dabei hatte die Ampel-Regierung angekündigt, kirchliche Sonderrechte einschränken zu wollen – freilich in Zusammenarbeit mit den Kirchen: "Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündigungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen", heißt es im 2021 beschlossenen Koalitionsvertrag. Man achte dabei auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, erläuterte dazu der Bundestagsabgeordnete und religionspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci, denn: "… das ist verfassungsrechtlich geschützt. Unser Ziel ist es daher, notwendige Reformen im Dialog mit den Kirchen voranzutreiben."Ähnlich verlautbarte der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz. Der kirchenpolitische Sprecher der Grünen ließ wissen: "Wir wollen das kirchliche Arbeitsrecht reformieren, um es auf die Höhe der gesellschaftlichen Realitäten und Lebensverhältnisse zu bringen…". Freilich müsse die Reform dem besonderen Verhältnis von Staat und Kirche umfassend Rechnung tragen "und das im Grundgesetz verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in einen angemessenen Ausgleich mit den berechtigten Interessen der Beschäftigten bringen."
Status Quo statt Abschaffung, "Reförmchen" statt Reform. Ingrid Matthäus-Maier, Juristin und ehemalige langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete, widerspricht Castellucci und von Notz hinsichtlich ihrer Grundannahme eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in arbeitsrechtlichen Dingen vehement:
"Die Kirchen berufen sich bezüglich ihres vermeintlichen Selbstbestimmungsrechts auf § 137 der Weimarer Reichsverfassung, der in Artikel 140 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde. Dort steht aber ausdrücklich 'Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes'. Von einem Selbstbestimmungsrecht ist also keine Rede, lediglich von einem Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht und zwar – das ist wichtig – innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes."
Die angekündigte Zusammenarbeit mit den Kirchen sieht Matthäus-Maier skeptisch: "Wenn die Kirchen in diese Reform einbezogen werden, ist schon jetzt klar, dass in diesem Bereich nicht das juristisch Notwendige geschehen wird. Die Kirchen wollen weiterhin selbst darüber bestimmen, was in ihrem Rechtskreis geschieht, sie haben nie von sich aus auf etwas verzichtet – warum also sollten sie es jetzt tun?"
Statt Reformen kosmetische Korrekturen
Und die Gewerkschaften? Dort hat man zwar mittlerweile erkannt, dass die Arbeitnehmerrechte hier ausnahmslos gestärkt werden müssen und dass es nicht beim Prüfauftrag alleine bleiben darf. ver.di wünscht sich eine ausnahmslose Tarifpartnerschaft mit den kirchlichen Arbeitgebern, die es bislang nicht gibt, weil es wegen des "Dritten Wegs" nicht möglich ist. Im Mai hat die Gewerkschaft immerhin eine Petition auf den Weg gebracht: zwei zentrale Forderungen richten sich diesmal direkt an den Gesetzgeber:
Schluss mit Diskriminierung wegen privater Entscheidungen: Streichung der Sonderregeln für Kirchen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 9 AGG)
Volle Mitbestimmung auch für Kirchenbeschäftigte: Streichung gesetzlicher Ausnahmen (u.a. §118 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz)
Auch die beiden Kirchen haben sich angesichts der öffentlichen Debatten in kleinen Schritten bewegt. Im November 2022 haben die deutschen Bischöfe eine neue "Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse" vorgelegt. Künftig soll damit der "Kernbereich privater Lebensgestaltung, insbesondere Beziehungsleben und Intimsphäre", rechtlichen Bewertungen entzogen werden, heißt es dort. Für eine zweite Ehe oder eine gleichgeschlechtliche Beziehung droht nun auch für katholische Beschäftigte nicht mehr die Kündigung.
"Vielfalt in kirchlichen Einrichtungen ist eine Bereicherung", betont der rechtliche Leitfaden nun. Beschäftigte dürfen demnach nicht aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter, sexueller Identität und Lebensform diskriminiert werden. Grundsätzlich sollen für alle Beschäftigten unabhängig von ihrer Kirchenzugehörigkeit nun die gleichen Regeln gelten, lediglich im pastoralen und katechetischen Dienst sowie bei Personen, die das kirchliche Profil einer Einrichtung prägen, wird die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche verlangt. Keine grundlegenden Veränderungen aber gibt es im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts, wo die Kirche weiterhin auf den "Dritten Weg" setzt und das Betriebsverfassungsgesetz nicht anwendet. Auch künftig bleiben Streiks und die Verhandlung von Tarifverträgen also ausgeschlossen, die Kirche verzichtet auch nicht auf eigene Mitarbeitervertretungsordnungen und eine eigene kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit für das kollektive Arbeitsrecht.
Kurzum: es bleibt vieles wie es war, ganz im gewohnten Reform-Duktus der katholischen Kirche. Auch die Veränderungen in der Evangelischen Kirche (Mitarbeits-Richtlinie der EKD vsl. 2023, Mitarbeitervertretungsgesetz der EKD vsl. 2023 etc.) sind vor allem eines: kosmetische Maßnahmen. Die Bundesregierung unterlässt es wie angekündigt, kirchliche Sonderrechte einzuschränken. Eine fragwürdige Partnerschaft von Staat und Kirche findet hier ihre Fortsetzung – auf Kosten der Beschäftigten. Eine überfällige Reform wird einmal mehr vertagt. Kein guter Zustand im Rechtsstaat.
1Ingrid Matthäus-Maier: Staatskirche oder Rechtsstaat? in: Ortner, EXIT, Warum wir weniger Religion brauchen, Frankfurt 2019 ↩︎
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