Stimmt es, dass in vielen Sozialberufen der Taufschein so wichtig ist wie der Nachweis der Ausbildung? hpd-Autor Herbert Thomsen widerspricht dieser häufig gehörten Auffassung.
In einem Artikel des hpd vom 2. Januar 2020 wurde von Inge Hüsgen folgende Formulierung verwendet: "Eine konfessionsfreie Sozialarbeiterin findet nach dem Studium in Deutschland keine Stelle, da die meisten Arbeitsplätze Kirchenmitgliedern vorbehalten sind. Als sie nach mehreren Jahren Tätigkeit im Ausland nach Deutschland zurückkehrt, muss sie erleben, dass die weltanschauliche Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt weitergeht." Diese Aussage, die eine generelle Nichteinstellung von Konfessionsfreien und Andersgläubigen in Einrichtungen von Caritas und Diakonie impliziert, ist längst nicht mehr zutreffend, sie besteht allenfalls noch in den Köpfen fort. Es glauben immer noch Hochschullehrer*innen, Studierende und Auszubildende in einigen Gesundheits-, sozialen und erzieherischen Berufen, dass es ohne Kirchenmitgliedschaft auf dem Arbeitsmarkt nicht ginge.
Hintergrund des Artikels im hpd ist eine Untersuchung an der Hochschule Würzburg, die erneut bestätigt, dass an deutschen Hochschulen, insbesondere in den Fächern der Sozialen Arbeit und Pädagogik neben dem Fachwissen auch die Botschaft vermittelt wird; ohne Kirchenmitgliedschaft sind die Jobaussichten schlecht und deshalb wird von vielen Studienabgänger*innen neben dem Abschluss auch die Taufe vollzogen.
Ohne Taufe kein Job – stimmt diese Annahme noch?
Es ist angebracht, ein differenziertes Bild von der Einstellungspraxis der kirchlichen Wohlfahrtskonzerne zu zeichnen, sonst geht die Kritik am kirchlichen Arbeitsrecht ins Leere und es werden Chancen vertan, den Druck auf die Kirchen zu erhöhen. Zugleich ist es zum Glück so, dass Caritas und Diakonie zwar die größten Wohlfahrtskonzerne sind, aber in der Gesamtheit der Angebote für Arbeitsverhältnisse im Sozial-, Gesundheits-, und Erziehungswesen nur über eine Minderheit der Stellenangebote verfügen.
Die Anteile kirchlicher Arbeitsverhältnisse betragen bei Krankenhäusern 18 Prozent von ca. 1 Million Beschäftigten, in den Kindergärten ein Drittel von 750.000 Beschäftigten und liegen in anderen sozialen Feldern, mit Ausnahme der Obdachlosenhilfeeinrichtungen, deutlich unter einem Fünftel.
Die Rechtslage und Einstellungspraxis innerhalb der Kirchen
Die Kirchen berufen sich bei ihrer früheren Praxis, nur konfessionsgebundene Bewerber*innen einzustellen, auf das grundgesetzlich eingeräumte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in ihren inneren Angelegenheiten. Dies war bisher auch immer uneingeschränkt vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Allerdings hat es mit der Anrufung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) deutliche Einschränkungen gegeben. Der EuGH und das Bundesarbeitsgericht haben diese Einstellungspraxis auf die verkündungsnahen Stellen beschränkt.
Bereits 2015 hatte die katholische Kirche und 2017 die Evangelische Kirche eine formelle Öffnung ihrer Stellen für Nichtchristen und Konfessionsfreie beschlossen. In der Begründung für die Öffnung vom 16. Dezember 2016 auf der EKD-Synode für die geänderte "Richtlinie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie" findet sich folgende Analyse:
"Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt. Aufgrund der gegenüber der Gesamtbevölkerung stärkeren Überalterung der kirchlichen Mitgliedschaft nimmt die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder im arbeitsfähigen Alter überproportional ab. Neben Regionen mit stark volkskirchlich geprägten Strukturen gibt es Regionen, in denen der Prozentsatz von evangelischen Kirchenmitgliedern im arbeitsfähigen Alter unter zehn Prozent gesunken ist, in denen aber viele und große diakonische Einrichtungen betrieben werden.
Der Mangel an Fachkräften nimmt in verschiedenen Berufsbildern des Sozial- und Gesundheitswesens relativ stark zu, insbesondere im Pflegebereich. Auch hierauf wird durch die stärkere Öffnung von Kirche und Diakonie für die berufliche Mitarbeit von andersgläubigen Menschen reagiert."
Die Richtlinie unterscheidet in verkündungsnahe Tätigkeiten wie Pfarrer, Diakone usw., für die eine Mitgliedschaft in der Evangelischen Kirche Voraussetzung ist, in Leitungstätigkeiten, die auch mit Mitgliedern anderer christlicher Kirchen besetzt werden sollen, und "übrigen Aufgaben". Die "übrigen Aufgaben" dürfte die weitaus größte Zahl der Stellen ausmachen. Hier heißt es in der Richtlinie in Paragraf 3:
"Sofern es nach Art der Aufgabe unter Beachtung der Größe der Dienststelle oder Einrichtung und ihrer sonstigen Mitarbeiterschaft sowie des jeweiligen Umfelds vertretbar und mit der Erfüllung des kirchlichen Auftrags vereinbar ist, können für alle übrigen Aufgaben auch Personen eingestellt werden, die keiner christlichen Kirche angehören."
Wählbarkeit von Konfessionsfreien in die Mitarbeitervertretungen (MAV)
Darüber hinaus wurde auch das Recht der Mitarbeitervertretungen innerhalb der kirchlichen Einrichtungen angepasst.
Auf der Synode der EKD im November 2018 wurde das Mitarbeitervertretungsgesetz der EKD geändert. Bis zu diesem Zeitpunkt war es nur Mitgliedern christlicher Kirchen möglich, sich in die Mitarbeitervertretungen MAV (passives Wahlrecht) wählen zu lassen. Jetzt steht die Wahl in eine MAV allen Beschäftigten der kirchlichen Einrichtungen offen, ob konfessionsfrei, muslimisch oder anderes.
Dies ist ein sehr deutlicher Hinweis: Die Chefetage der evangelischen Kirche hat verstanden und akzeptiert, dass in ihren Einrichtungen in großer Zahl Menschen arbeiten, die keine Kirchensteuer zahlen. Darüber haben sie nicht öffentlich berichtet, denn dies wäre dem Eingeständnis der Niederlage ihrer bisherigen Politik gleichgekommen.
Im "Kircheninfo", dem Newsletter der Gewerkschaft Verdi, vom März 2019 finden sich dazu folgende Sätze: "Zukünftig können endlich auch Nichtmitglieder christlicher Kirchen in die MAV gewählt werden, die so genannte ACK-Klausel wurde für Mitarbeitervertretungen sowie Jugend- und Auszubildendenvertretungen abgeschafft. Zum einen wurde diese Regelung ohnehin in mehr als der Hälfte der Landeskirchen nicht mehr angewandt."
Auch in den katholischen Einrichtungen genießen Nichtchristen seit 2015 das passive Wahlrecht in die MAV. Dies wird in den Handlungshilfen für die MAV auf der Webseite der deutschen Bischofskonferenz ausdrücklich hervorgehoben.
Nach den Urteilen des EuGH
Die kirchlichen Einrichtungen sind dazu übergegangen, ihre Stellenausschreibungen dahingehend zu ändern, dass nur noch die Identifikation mit dem Arbeitgeber gefordert wird. Eine formelle Zugehörigkeit als Einstellungsanforderung findet sich kaum mehr und wird sicherlich auch nicht mehr bei Ablehnungen verwendet werden.
Dies schließt natürlich nicht aus, dass bei der internen Bewertung von Bewerbungen christliche Jobsucher*innen bevorzugt werden.
Bei der Caritas und katholischen Krankenhäusern hat sich die öffentliche Ausschreibung von Stellenangeboten in Regionen mit geringer Kirchendichte deutlich verändert.
So heißt es auf der Webseite der Caritas Vorpommern: "Christliche Werte sind die Grundlage unseres Handelns. Als sozialer Arm der katholischen Kirche helfen wir Menschen unabhängig ihrer Konfession und Weltanschauung. Genau so sind wir offen für Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichsten Hintergründen. Jede und jeder in unserem Verband ist uns wichtig und leistet einen Beitrag zu unserem Erfolg."
Einige katholische Einrichtungen in Bremen, die Caritas und ein katholisches Krankenhaus mit zusammen ca. 1.400 Beschäftigten werben inzwischen auf ihrer Webseite bei den Stellenangeboten offensiv mit dem Slogan: "Für mich zählt Profession und nicht Konfession". Eine Werbeträgerin auf der Webseite der Caritas, mit Kopftuch und einem nicht urdeutschen Vornamen, wirbt für die tolle Betriebsatmosphäre.
Kirchenmitgliedschaft zur Einstellung für katholische Sozialeinrichtungen ist in Bremen nicht mehr notwendig. Gleiche Aussagen befinden sich auf den entsprechenden Seiten der Caritas in Frankfurt, Stuttgart und Osnabrück.
Wie viele Andersgläubige und Konfessionsfreie arbeiten bei den Kirchen ?
Die tatsächlichen Veränderungen der Einstellungspraxis sind nur schwer zu erfassen. Schließlich gibt es ca. 70.000 eigenständige Einrichtungen innerhalb der Kirchen und ihrer Wohlfahrtskonzerne, die über ein relativ autonomes Einstellunsgrecht verfügen und dieses je nach örtlichen Gegebenheiten anwenden.
Bei den Wohlfahrtskonzernen Caritas und Diakonie arbeiten fast 1,2 Millionen Menschen. Einschließlich der Kirchen selbst, zu denen auch die überwiegende Zahl der Kindergärten gehören, sind es insgesamt 1,5 Millionen.
Die Einrichtungen innerhalb der Wohlfahrtskonzerne wie Krankenhäuser, Obdachloseneinrichtungen oder Pflegeheime haben keinen verkündungsnahen Bereich und sind in der Arbeitsweise von anderen Wohlfahrtsverbänden nicht zu unterscheiden. Innerhalb der kirchlichen Wohlfahrtsverbände haben sich einzelne Großunternehmen herausgebildet, die im wesentlichen geschäftsorientiert arbeiten und mit den örtlichen kirchlichen Strukturen nicht mehr verbunden sind. Der evangelische Krankenhauskonzern Agaplesion (gemeinnützige Aktiengesellschaft) hat 25.000 Beschäftigte in 30 Krankenhäusern und 38 Pflegeheimen. Die Johanniter-Unfall-Hilfe hat 22.000 Beschäftigte und die Johanniter GmbH im Gesundheitsbereich 15.000 Stellen an circa 100 Standorten. Hier finden sich keine Stellenausschreibungen mit der Notwendigkeit der Kirchenmitgliedschaft.
Statistisch belegbare veröffentlichte Zahlen gibt es leider nicht. Deshalb einige Fundstücke:
Der Deutschlandfunk berichtete am 25. Oktober 2018, dass es eine zehn Jahre alte Erhebung, also aus 2008, geben soll, nach der jeder sechste Beschäftigte der Diakonie nicht christlichen Glaubens sei. Dies entspräche für den damaligen Zeitraum etwa 16,6 Prozent oder 85.000 Beschäftigten.
Die Mitteldeutsche Kirche gab 2019 für die Diakonie für ihr Wirkungsfeld (Sachsen-Anhalt und Thüringen) an, dass nur 48 Prozent der Beschäftigten kirchlich gebunden seien.
idea vermeldete am 18. April 2018, dass in den neuen Bundesländern etwa 45 Prozent der Beschäftigten der Diakonie ohne Kirchenbindung seien.
Verdi verstieg sich in der Kircheninfo von März 2019 zu der gewagten These "dass in den meisten Einrichtungen die Mehrheit der Beschäftigten längst nicht mehr Mitglied der Kirche ist."
Caritas und Diakonie – die Dämme brechen
Der Damm der Kirchen, nur Christen einzustellen, ist längst gebrochen. In den letzten Jahren sind zehntausende Konfessionsfreie bei Caritas und Diakonie eingestellt worden. Meistens leise und ohne Öffentlichkeit. Dies betrifft nicht nur die neuen Bundesländer, sondern auch Großstädte im Westen, in denen die Zahl der Christen im arbeitsfähigen Alter sich denen der neuen Bundesländer schnell annähert. Hierzu gibt es gutes statistisches Material auf fowid.
Da die kirchliche Trägerlandschaft weder bei der Caritas noch bei der Diakonie ein zentralistischer Apparat ist, verändert sich die Einstellungspraxis nicht gleichzeitig an jedem Ort. Es wird daher für längere Zeit noch Reservate der Bewahrung in einzelnen Einrichtungen, Landeskirchen und Bistümern geben, die ausschließlich Christen beschäftigen wollen.
In der eher konservativen evangelischen Landeskirche in Bremen existiert neben der Stiftung Friedehorst, die weitgehend auf Kirchenmitgliedschaft beharrt, ein Krankenhaus mit einem sehr hohen Anteil Konfessionsfreier und sogar eine Pflegeeinrichtung, in der nur 100 der 300 Beschäftigten Kirchensteuer entrichten.
Der Trend ist aber eindeutig: Aus Mangel an geeignetem "christlichen" Personal sind die Wohlfahrtsunternehmen Caritas und Diakonie dazu gezwungen, Andersgläubige und Konfessionsfreie zu beschäftigen.
Damit wird der Spielraum innerhalb der Wohlfahrtskonzerne für die Beschäftigten größer, sich gewerkschaftlich zu organisieren und auch die Gleichbehandlung nach den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes durchzusetzen und Tarifverträge abzuschließen. Es wird auch einfacher werden, die im deutschen Staatsrecht vorhandenen Sonderrechte der Kirchen, etwa den Ausnahmeparagraphen 9 des "Allgemeinen Gleichheitsgesetzes" abzuschaffen.
Vor allem die Kirchen haben am Stillschweigen ein Interesse
Wenn also die Realitäten in den Einrichtungen von Caritas und Diakonie längst nicht mehr dem von den Kirchen nach außen verkündeten Dogma der Einstellung von Christ*innen entsprechen, ergibt es überhaupt keinen Sinn, diesen vergangenen Zustand zu beklagen und anzuprangern. Damit helfen wir indirekt der Aufrechterhaltung eines Bildes, das vorrangig den Kirchen nützt.
Da immer noch große Mehrheiten des Unterrichtspersonals an Hoch-, Fach-, und Berufsschulen sowie der Studierenden und Auszubildenden der irrtümlichen Auffassung sind, Kirchenmitgliedschaft sichere den Zugang zu Jobs, weil die Realitäten noch nicht in ihrem Bewusstsein angekommen sind, wäre es doch die vornehmste Aufgabe von säkularen Aktivist*innen, über diesen Irrtum aufzuklären.
Diese Fehleinschätzung führt zumindest bei den Anwärter*innen in diesen Berufsgruppen zu einer erheblichen Zurückhaltung beim Kirchenaustritt und somit zur Sicherung von Kirchensteuereinnahmen.
Die Kritik am kirchlichen Arbeitsrecht ist damit nicht überholt, aber die Forderung nach ihrer rechtlichen Abschaffung in staatlichen Gesetzen wird um ein Vielfaches einfacher. Und außerdem ist es für Säkulare doch sicherlich auch ein Erfolgserlebnis, mit dazu beigetragen zu haben, die übermächtig erscheinenden, milliardenschweren Kirchen ein wenig in die Knie gezwungen zu haben.
Wenn es gelänge, in relevanten Großstädten die Beschäftigung von Konfessionsfreien und ihre Einstellung in Einrichtungen der Caritas und der Diakonie zu dokumentieren, öffentlich zu machen und insbesondere an den Ausbildungsstätten von sozialen und Pflegeberufen zu verbreiten, würde die Zahl der "Zwangsmitgliedschaften" deutlich sinken. Damit würde der Druck auf die Kirchen zusätzlich steigen, das besondere kirchliche Arbeitsrecht abzuschaffen.
Die christlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie sind zu groß geworden, um ihren Personalbedarf allein aus der immer kleiner werdenden Schar der Christ*innen zu decken. Damit ist der Fuß in der Tür, die die Kirchen jetzt nicht mehr geschlossen bekommen.
Das Ende eines Teils des kirchlichen Arbeitsrechts bei Diakonie und Caritas ist näher als deren Kritiker denken.
↧