Nachdem die "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" am 15. April ihren Bericht vorgestellt hatte, blieb die Reaktion der Ampelkoalition sehr verhalten. Man wollte den Bericht zunächst einmal prüfen. Dann wurde das Schreckgespenst einer gesellschaftlichen Spaltung in den Raum gestellt, wenn die Streichung des Abtreibungsparagrafen erneut zur Diskussion gestellt werde. In erster Linie reagierten zivile Organisationen mit Stellungnahmen und Kommentaren auf den Kommissionsbericht. Nun scheint aber auch auf der politischen Seite Bewegung in die Sache zu kommen.
Die 34. Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen (GFMK) fasste Mitte Juni einen Beschluss, in dem die Ministerinnen der Länder den Bundestag und die Bundesregierung mit großer Mehrheit auffordern, "in einem ersten Schritt einen Regelungskatalog und Regelungsvorschläge für eine Fristenlösung für die ersten zwölf Wochen außerhalb des Strafrechts vorzulegen". Die einzige Gegenstimme kam aus Bayern von Ulrike Scharf.
Der Deutsche Frauenrat setzt sich für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ein, um die Versorgung ungewollt Schwangerer zu verbessern und schlägt dazu eine Fristenlösung vor. Die Neuregelung soll betroffene Schwangere und Ärzt:innen entkriminalisieren. Die Mitgliederversammlung des Dachverbands, dem 60 Organisationen angehören, hat mit großer Mehrheit dafür gestimmt. Dagegen stimmten nur die Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauenverbände und die Frauen Union der CDU Deutschlands. Beide habe ihre Ablehnung in einem Sondervotum festgehalten.
Die SPD-Bundestagsfraktion gab in der letzten Woche ihren Beschluss bekannt, in dem sie detaillierte Forderungen aufstellt, um das Selbstbestimmungsrecht von ungewollt Schwangeren zu stärken. Die FDP reagierte prompt und sagte in der FAZ zu den Vorschlägen des Koalitionspartners: "Nein", während Ricarda Lang für Die Grünen dringend die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen fordert.
Die Forderungen stimmen weitgehend überein
Es besteht Einigkeit darüber, dass Abtreibungen in der Frühphase der Schwangerschaft beziehungsweise bis zur 22. Woche entkriminalisiert werden sollten. Dies beinhaltet die Regelung des Abbruchs außerhalb des Strafrechts, die Abschaffung der Wartezeit, die Kostenübernahme durch die Krankenkassen und die Straffreiheit bei medizinischer und kriminologischer Indikation nach der 22. Woche. Zudem wird die Notwendigkeit betont, den Zugang zu wohnortnahen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten. Breite Zustimmung findet auch die Forderung nach einem Recht auf Beratung statt einer Beratungspflicht. Darüber hinaus wird die Auffassung vertreten, dass der Schwangerschaftsabbruch Bestandteil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein muss.
Wie steht es um die Streichung von Paragraf 218 StGB? – Bericht aus dem Familienministerium
Doch wie weit sind die Überlegungen innerhalb der Regierungskoalition gediehen? Am Mittwoch letzter Woche gab es im Familienausschuss einen Sachstandsbericht (ab 1:41:09) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zur weiteren Planung bezüglich der Streichung von Paragraf 218 StGB. Der Bericht wurde von der Parlamentarischen Staatssekretärin Ekin Deligöz (Bündnis 90/Die Grünen) vorgestellt. Die Versorgungssituation hinsichtlich des Zugangs zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland sei heute schlechter als zum Zeitpunkt des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1993. Dies bestätige auch die vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebene "ELSA-Studie". Die Staatssekretärin betonte, dass wir eine sachliche Diskussion im politischen Raum bräuchten und ist überzeugt, dass diese stattfinden wird. Die Kommission habe festgestellt: Die derzeitige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs kriminalisiert und stigmatisiert Frauen, ist widersprüchlich und in dieser Form nicht haltbar. Die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs kann in einer sich verändernden Gesellschaft nach mehr als 30 Jahren auch anders bewertet werden. Es wird empfohlen, die strafrechtliche Rechtswidrigkeit in den ersten drei Monaten abzuschaffen und außerhalb des Strafrechts zu regeln.
Diese Position der Kommission wird von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Eine Civey-Umfrage zeigt, dass über 80 Prozent meinen, dass die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch bei der Frau liegt und ein Abbruch in der Frühschwangerschaft nicht strafbar sein soll. Mit dem Beschluss der Gleichstellungsministerinnen ist auch auf Bundesebene eine Veränderung eingetreten. Bundestag und Bundesregierung seien aufgefordert, erste Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere mit Blick auf die ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft, betonte Deligöz. Die Bundesregierung habe zunächst den Auftrag, den Bericht und die Empfehlungen der Kommission zu prüfen, am Ende müsse der Bundestag entscheiden. Die Staatssekretärin empfahl, Mitglieder der Kommission in den Familienausschuss einzuladen.
In den folgenden kurzen Fragen und Statements der Fraktionen wurde deutlich, wer sich für eine Entkriminalisierung und wer sich für eine Beibehaltung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs ausspricht.
Leni Breymaier, SPD vertrat in einem engagierten Statement die Position der SPD-Bundestagsfraktion und deren jüngstem Beschluss. Sie wies auf internationale menschenrechtliche Positionen hin, die in Deutschland bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Ihr Plädoyer endete mit dem Appell: "Ich freue mich darauf, wenn wir das gemeinsam hinkriegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, trauen wir uns was!"
Denise Loop, Bündnis 90/Die Grünen betonte die Notwendigkeit, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen zu stärken. Das Schutzniveau des werdenden Lebens müsse je nach Phase der Schwangerschaft gewahrt bleiben. Eine Entkriminalisierung in den ersten zwölf Wochen sei aber unabdingbar. Sie wies auch darauf hin, dass viele Organisationen und Verbände diese Position unterstützten und es sich eben nicht um ein gesellschaftliches "Spaltthema" handele.
Gökay Akbulut, Gruppe Die Linke hält es gerade im internationalen Vergleich für unerträglich, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland immer noch unter Strafe stehen. Als Teilnehmerin an UN-Frauenrechtskonferenzen werde sie von Vertreter:innen anderer Länder nur mit Erstaunen angeschaut. In vielen europäischen Ländern, aber auch weltweit, seien Schwangerschaftsabbrüche längst Teil der Gesundheitsversorgung und keine Straftat mehr. Sie wies auf die Kritik an der Bundesregierung bezüglich der Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention hin, die zu ähnlichen Forderungen führe wie sie die Kommission empfohlen habe. Sie befürchtet, dass die Ergebnisse nun zwischen den Ministerien hin- und hergeschoben werden und fragte: "Was können wir als Abgeordnete zusätzlich zu den Ergebnissen der Kommission auch fraktions- und parteiübergreifend tun, damit die Streichung des Paragrafen 218 noch in dieser Legislaturperiode geklärt wird?"
Die Vertreterinnen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie der Vertreter der AfD-Fraktion sprachen sich gegen eine Änderung aus.
Silvia Breher, CDU fragte, ob der von der Kommission eröffnete Ermessensspielraum verfassungsrechtlich sicher sei und ob das Ministerium dies bereits geprüft habe. Genau dies sei im Verfahren und betreffe vor allem das Bundesjustizministerium, so die Antwort von Ekin Deligöz. Breher fragte weiter, ob die Äußerungen der Bundesfamilienministerin, in denen sie sich für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ausspricht, ihre persönliche Meinung oder die offizielle Position des Familienministeriums seien. Deligöz antwortete, es sei die Meinung der Ministerin und auch die Meinung der Partei, die die Ministerin vertrete.
Nicole Bauer, FDP ist der Ansicht, dass mit der jetzigen Regelung ein gesamtgesellschaftlicher Kompromiss gefunden worden sei. Es sei auch eine Überprüfung der Rechtssicherheit notwendig, die durch mehrere Instanzen und das Bundesverfassungsgericht gehen müsse. Eine Neuregelung brauche viel Zeit. Wichtiger als eine Gesetzesänderung sei es, Versorgungslücken zu schließen und der Versorgungssicherheit Priorität einzuräumen. Sie fragte daher nach den Ansätzen im Gesundheits- und Familienministerium und bis wann die Ergebnisse der ELSA-Studie umgesetzt würden. Sie fragte weiter, ob auch Regelungen zur Eizellspende geplant seien. Deligöz antwortete, dass die Eizellspende in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Justiz falle. Die Antwort stehe noch aus. Das Gesundheitsministerium und das Familienministerium arbeiteten an der Versorgungslage.
Gereon Bollmann, AfD fragte, ob und wie sich die Missstände in der Versorgung durch eine Fristenlösung ändern würden. Er bezweifelt, dass die bestehenden Defizite durch eine entsprechende Gesetzesänderung beseitigt werden könnten. Er glaubt auch nicht, dass sich die Welt in den letzten 30 Jahren verändert habe. Das Recht auf Leben sei kein relatives, sondern ein absolutes Recht. Das Bundesverfassungsgericht habe seinerzeit eine gute Abwägung vorgenommen. Er fragte, warum dies jetzt geändert werden solle. Er wollte auch wissen, wie die Kommission und das Familienministerium die Position begründen, dass ein Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase erlaubt sein soll.
Die Frage nach der Position der Ministerin und der Fraktion sei bereits beantwortet, so die Staatssekretärin. Die Frage nach den Begründungen der Kommission richte er am besten direkt an die Kommissionsmitglieder. Sie endete mit einem starken Statement: "Ja, die Welt hat sich gedreht. Ja, die Versorgungslage ist nicht gut. Das sagen mehrere Studien. Ja, wir müssen den Frauen mehr Selbstvertretungsrecht und Selbstbestimmungsrecht zugestehen. Auch da hat sich diese Gesellschaft gewandelt und das vertreten wir auch im Familienministerium."
Die Rolle des Lebensschutzes
Der zentrale Knackpunkt für eine Lösung, die dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren den menschenrechtlich gebotenen Stellenwert einräumt, war und ist der Lebensschutz. Haben Embryo oder Fötus bereits Menschenwürde und damit ein Recht auf Lebensschutz? Warum sollte man sonst über unterschiedliche Regelungen für die verschiedenen Phasen einer Schwangerschaft diskutieren? Die Kommission hat im Rahmen ihrer Beratungen zahlreiche Stellungnahmen verschiedener Verbände eingeholt. Einige sehen keine Begrenzung des Schwangerschaftsabbruchs auf bestimmte Fristen vor.
Der Zentralrat der Konfessionsfreien fordert in seiner Stellungnahme: "eine Neuregelung darf keine Fristenregelung und keine gesetzlichen Wartezeiten enthalten, da beide Einschränkungen sich nicht weltanschaulich neutral, verfassungskonform und rechtswissenschaftlich konsistent begründen lassen". Der Vorsitzende Philipp Möller berichtete nach der Anhörung bei der Kommission: "Ich habe unsere Forderung nach einer vollständigen Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs damit begründet, dass die Vorstellung eines vorgeburtlichen Lebensrechts auf religiöse Überzeugungen zurückgeht. Dadurch würden alle Betroffenen stigmatisiert und müssten sich per Pflichtberatung vom Staat entmündigen lassen, um einer Strafverfolgung zu entgehen." Die Stellungnahme des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) geht in die gleiche Richtung und argumentiert aus juristischer Sicht, dass es nur einen Grundrechtsträger gibt, nämlich die ungewollt Schwangere. Daher, so die Schlussfolgerung des ifw, ist auch keine Abwägung zwischen den Grundrechten der ungewollt Schwangeren und denen eines Embryos oder Fötus angezeigt.
Dies erkannte bereits 2017 Marge Berer, die sich seit Jahrzehnten für reproduktive Rechte einsetzt. Sie schrieb dazu an das Human Rights Committee in einer Diskussion über das Recht auf Abtreibung: "Ich würde behaupten, dass es nur einen Grund gibt, der rechtfertigen kann, warum ein sicherer, legaler Schwangerschaftsabbruch als ein Menschenrecht behandelt werden kann und sollte – dass die Menschenrechte erst mit der Geburt und dem unabhängigen Leben beginnen und nicht vorher." (Übersetzung durch die Autorin)
Am Freitag ging der Bundestag in die Sommerpause. Ob er danach noch die Kehrtwende schafft und bis zur Bundestagswahl im Herbst 2025 eine Neuregelung verabschiedet? Das dürfte nicht zuletzt von der Kanzlerpartei abhängen, ob sie die Initiative ergreift und ob sich der Koalitionspartner FDP doch noch bewegen wird. Der hpd hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die Bundesmitgliederversammlung der Liberalen Frauen am vergangenen Samstag in Göttingen nicht nur den Bundesvorstand neu gewählt hat, sondern auch den Antrag "Den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch endlich straffrei machen" einstimmig angenommen hat. Man darf also gespannt sein.
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